Die Sprache ist in einem ständigen Wandel. Sie wächst mit der Zeit und deren Realitäten mit. Wer sich dagegen sperrt, versucht vergebens das Rad zurückzudrehen. Das ist nicht sinnvoll. Und teilweise ist es gewaltvoll.
Dynamischer Wortschatz
Können Sie sich erinnern, dass Sie irgendwann Namen von Dingen lernten, die neu in Ihre Welt kamen? Bei mir waren das zum Beispiel «E-Mail» und «Inline-Skates», «Tzatziki» oder die «CD». Es scheint heute ein bisschen unwirklich, dass es diese Wörter, die ich heute so selbstverständlich verwende, mal nicht gab in meinem Wortschatz. Dass sie bedeutungsleer waren, bevor ich sie gelernt und angenommen hatte. Nicht alle solchen Neuheiten habe ich mit offenen Armen empfangen. Ich kann mich sogar erinnern, dass ich mich im Gymnasium weigerte, meine Matura-Arbeit am «Computer» zu schreiben und sie stur in die Schreibmaschine tippte, weil ich mich diesem «Trend» entziehen wollte. Aus heutiger Sicht eine total absurde Idee. Niemand zwang mich an das moderne Gerät, ich konnte meinen Lernprozess in meinem Tempo machen.
Sprache wandelt sich mit der Gesellschaft
Die Sprache ist auch nach der Alltäglich-Werdung des Computers und nach dem goldenen Zeitalter des Musikhörens ab CD nicht stehen geblieben. Zum Glück! Sie vollzieht auch heute eine gesellschaftliche Entwicklung nach:
- Das generische Maskulinum – die männliche Wortform, die «die Frauen mitmeint» – wird seltener und schon sehr oft ganz selbstverständlich durch andere Ausdrücke oder Aufzählungen ersetzt. Das ist nicht zuletzt auch all den Frauen und Feministinnen zu verdanken, die den Frauenstreik neu aufleben liessen, als die Diskriminierung nicht enden wollte. Eine halbe Million Menschen gingen 2019 auf die Strasse, weil sie unter anderem auch das «mitgemeint sein» der Frauen nicht mehr akzeptieren.
- Geschlechtsidentitäten, die vom binären Frau-Mann-System abweichen, werden nicht nur lebbar, sondern auch in der Sprache sichtbar. Unterschiedliche Formen von * über : bis geschlechtsneutrale(re) Begriffe wie «Mitarbeitende» kommen zum Einsatz. Es macht Freude, sich auf die kreative Herausforderung einzulassen, eine Sprache zu benutzen, die nicht ausgrenzt oder unsichtbar macht, sondern Raum lässt für Lebensrealitäten ausserhalb oder zwischen dem allzu schwarz-weissen und ungenügenden binären System.
- Rassistische, sexistische und andere überholte Stereotypen werden heute in alten Wörtern erkannt und hinterfragt. Durch neue Begriffe wird uns eine Alternative angeboten. Es braucht manchmal auch etwas Willenskraft, die neuen Ausdrücke in den aktiven Wortschatz aufzunehmen. Sich ihnen zu verweigern führt aber höchstens dazu, dass es ein bisschen länger Zeit braucht, bis man sich dann doch daran gewöhnt hat. (Wie bei mir damals mit dem Computer.)
Mächtige Sprache
Die Entwicklung der Sprache ist ein Spiegel der Gesellschaft und ihres Reifens. Und weil die Sprache so mächtig ist, schafft sie Realität. Sie schafft Sichtbarkeit und Raum für Menschen und Dinge, die bisher «geghostet» – unsichtbar gemacht – oder diskriminiert wurden. Wer diese Entwicklung bekämpfen oder sogar verbieten will, tut jenen Gewalt an, die durch die neuen sprachlichen Möglichkeiten neu einen Platz erhalten. Wer sich selber schwer tut, wem die neueren Begriffe noch nicht so leicht und selbstverständlich über die Lippen kommen, darf sich die nötige Zeit für den Lernprozess nehmen (wie ich damals mit dem Computer). Wer aber lautstark “Terror” und “Bevormundung” ruft, neuen Sprachgebrauch sogar verbieten will, will Bewusstseinswerdung rückgängig und Menschen wieder unsichtbar machen. Das ist ein gewaltsamer, brutaler Akt und hat nichts mit Freiheit zu tun. Die Energie gegen den sichtbar machenden Sprachgebrauch richtet sich direkt gegen jene, die inzwischen auch sprachlich einen angemessenen Platz finden in der Gesellschaft. Alle sie müssen ihr Sein auch so schon oft schmerzhaft behaupten.
Wir sollten uns solidarisch an ihre Seite stellen. Den “Terror”-Schreihälsen zulächeln und keinesfalls zulassen, dass sie das Rad zurückdrehen. Solidarisch wider die Unsichtbarkeit.
Liebe Lysa, toller Text, werde ich in meinem nicht so lernwilligen beruflichen Umfeld empfehlen.
Danke, Martin! Ein bisschen weniger Aufregung wäre angebracht, dünkt mich.