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Unjournalistisch und suggestiv

Mir fehlen die Worte, seit ich am 15.5. die Schweiz am Sonntag aus dem Briefkasten geholt habe. Nachdem der „Täter von Rupperswil“ gefasst wurde – ein bis dahin unauffälliger, durchschnittlicher Schweizer –, stellt ausgerechnet diese Zeitung mit der Front-Schlagzeile eine krampfhafte suggestive Verbindung zum extremen, verbrecherischen Islamismus her. Mein Brief an den Chefredaktoren.

Reaktion auf den Fronttitel „Täter von Rupperswil schrieb Arbeit über Osama Bin Laden“, 15.5.2016

Sehr geehrter Herr Müller

Mir fehlen die Worte, seit ich am 15.5. Ihre Zeitung aus dem Briefkasten geholt habe. Nachdem der „Täter von Rupperswil“ gefasst ist – ein bis dahin unauffälliger, durchschnittlicher Schweizer –, stellt ausgerechnet Ihr Blatt mit der Front-Schlagzeile eine krampfhafte suggestive Verbindung zum extremen, verbrecherischen Islamismus her. Mit dem Verweis auf die vom Täter verfasste Schularbeit über die Beweggründe von Osama Bin Laden für 9/11 wird ganz klar ein Zusammenhang suggeriert.

Vielleicht ist es Ihnen entgangen: In der Schweiz macht sich gerade eine fürchterliche Stimmung breit. Genüsslich bewirtschaftet von den Rechts-Aussen-Parteien wird der Islam (dass dabei eigentlich allein wenige Extremisten gemeint sind, wird gerne verschwiegen) für alles verantwortlich gemacht, was Angst macht. Und Sie sind offenbar davon angesteckt worden.

Kurz vor Weihnachten geschah eine grausame Tat. Der Täter ist gefasst. Es ist schrecklich für „uns“, mit der Erkenntnis umzugehen, dass „jemand von uns“ zu solchem Barbarismus fähig ist. Wieso um Himmels Willen konstruiert Ihre Zeitung daraus einen Zusammenhang zu islamistischem Terror à la Bin Laden? Wollen Sie davon ablenken, dass solche menschliche Abgründe auch „bei uns“ vorhanden sind?

Es kommt hinzu, dass die suggestive Schlagzeile auch journalistisch jeder Grundlage entbehrt. Liest man den Artikel dazu, wird nämlich klar, dass der Täter 2003 (also 2 Jahre nach 9/11) sich mit dem Terroranschlag auseinander gesetzt hat. Wie er sich inhaltlich dazu äusserte, wissen die JournalistInnen ganz offensichtlich nicht. Allein der Titel der Arbeit wurde „recherchiert“. Ich würde viel Geld darauf verwetten, dass in dieser Zeit Tausende von SchülerInnen Arbeiten zu diesem Thema verfasst haben. Das sagt doch nichts aus! Wenige Abschnitte später wird der frühe Tod des Vaters von „T.N.“ als Bruch in dessen Leben und möglicher Auslöser für dessen seelische Abgründe angeführt. Der Vater starb 2011. Auchd diese These widerspricht der grossen Schlagzeile auf der Front frappant.

Herr Müller, was Ihre Zeitung mit „Bin Laden“ auf der Front macht, ist verantwortungslos und unjournalistisch. Neben den Artikeln wurde ein Kommentar von Ihnen platziert, der die angebrachte Beklommenheit und Ohnmacht angesichts der gewonnen Erkenntnisse gut zusammenfasst. Wieso lassen Sie dann zu, dass aus dem „Stoff“ eine solche Front-Schlagzeile wird?

 

Mit freundlichen Grüssen,
Lisa Mathys.